Bewegende Begegnungen

Am 03. März erreichte uns über die Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkus ein Hilferuf von Zirkusschulen aus Kiew mit der Bitte um Wohn- und Trainingsmöglichkeiten für ihre Schüler*innen mit deren Familien. In einer gemeinsamen Aktion zwischen Zirkusstandorten in Berlin, Potsdam und Werder konnten wir an die 200 Wohn- und Trainingsplätze für die geflüchteten jungen Menschen mit ihren Familien bereitstellen.


Seitdem trainiert eine Gruppe von 20 Kindern und Jugendlichen bei Montelino. Sie wohnen mit ihren Familien entweder schon in eigenen Wohnungen oder noch kostenfrei bei Familien, die dem Zirkus verbunden sind.


Anfangs haben wir aus unseren Reihen Übersetzer*innen organisiert, der Gruppe bei der Registrierung geholfen und sie teilweise in Berlin vom Hauptbahnhof abgeholt. Engagierte Menschen bekochten die Gruppe mittags und standen zum Gespräch und für alle Unterstützungen, die benötigt wurden, zur Verfügung.

 

Um den jungen ArtistInnen gerecht zu werden, haben wir Förderungen bei der Aktion Mensch und den Bündnissen für Bildung „Zirkus macht stark“ beantragt und bewilligt bekommen. Obwohl die jungen Artist*innen eine sehr hohe individuelle Trainingsbereitschaft haben, war es uns wichtig, ihnen eine Unterstützung im Training zu geben, die sie weiterbringt. So arbeiten sie regelmäßig mit Artist*innen, Pantomiminnen und Tänzer*innen zusammen, um ihre Techniken zu verbessen und neue Genres kennen zu lernen. In einer gemeinsamen Gruppe mit Jugendlichen des Circus Montelino arbeiten sie an dem Stück „Begegnungen“, das sich über mehrere Aufführungen immer weiterentwickelt und zum Ende des 1. Halbjahrs 2023 seine letzte Präsentation erleben wird. Neben diesem intensiven Trainingsprogramm nehmen die Kinder und Jugendlichen am Schulunterricht in Potsdam teil. Einige arbeiten zusätzlich auch noch online in ukrainischen Schulprogrammen.

 

Mit dem Zeltpunkt Montelino steht der Gruppe ein Ort zur Verfügung, an dem sie sein können, andere Jugendliche kennenlernen und vor allem sich auch ihre Familien regelmäßig treffen können. Hier finden auch die mit Fördergeldern finanzierten Deutschkurse sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für die Erwachsenen statt.

 

Schnell zeigte sich, dass der Trainingsraum für alle Menschen, die den Zeltpunkt nutzen, zu eng wurde. Die Kinder und Jugendlichen des offenen Treffs, der Trainingsgruppen des Circus, schon lange geplante Projekte mit Schulklassen und die ukrainische Gruppe teilten sich jetzt den Platz. Wir reagierten schnell, liehen zunächst ein Zelt aus und schafften ein zweites Zirkuszelt an, um den Trainingsraum zu erweitern. In einer Kooperation mit dem Volkspark Potsdam erhielten wir die Erlaubnis, das Zelt bis Ende des Jahres kostenfrei in der Nähe unseres Standortes aufzustellen.

(c) Bileam Tröger

Was konnten wir beobachten?

Als die Gruppe bei uns ankam, waren sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Erwachsenen stark traumatisiert. Sie hatten furchtbare Erlebnisse zu verarbeiten und eine anstrengende, teilweise auch gefährliche Flucht hinter sich.

 

Den Müttern, die, wie wir inzwischen wissen, tatkräftige, entschlossene und starke Frauen sind, war es anfangs kaum möglich, für das leibliche Wohl zu sorgen. Hier bewirkten der familiäre Anschluss in unseren Gastfamilien und der tägliche Treff und Austausch am Standort, dass sie langsam ihre Handlungsfähigkeit wiedergewannen. Ein Gefühl willkommen zu sein entstand bei unseren Gästen, die sich zunächst ständig bedankten. Erst langsam wuchs das Vertrauen, dass wir nachhaltig unterstützen und es für selbstverständlich halten. Immer mehr gewannen die Frauen ihre Kompetenzen zurück und gingen die vielen notwendigen Schritte, um in Potsdam bleiben zu können, oft gemeinsam an. Dazu gab es eine unermüdliche ehrenamtliche Unterstützung seitens der Geschäftsführung des Circus, die Familien in allen Belangen des Behördenkontakts zu stärken, sie zu ermuntern, ihnen Sicherheit zu vermitteln, dass am Ende alles klappen wird, obwohl, auch für uns, alles oft schwierig und undurchsichtig aussah. Vielen Frauen war es ein Anliegen etwas zurückgeben zu können. So halfen sie in unserem Zirkuscafé und unterstützen die Gruppe bei Auftritten.

 

Kurz nach Eintreffen unsere Gäste, spielten die Kinder und Jugendlichen eine Show im Rahmen des Benefizaufrufs des Volksparks Potsdam. Zum ersten Mal stellten sie ihr Künste einem Publikum in Potsdam vor und ließen viele Münder offenstehen. Ihre Darbietungen hatten eine enorme Professionalität. Was aber auch auffiel, sie schienen wie Puppen zu funktionieren, eingefroren, ohne Freude an ihrem Tun. Dieser Eindruck war erschreckend, machte er doch das Ausmaß der Verletzung überdeutlich.

Um so erfreulicher war, dass sich das sehr schnell änderte. Bei Montelino erfuhren die jungen Artist*innen, dass nicht immer alles perfekt organisiert war. Manchmal fehlte zunächst eine Matte, manchmal passte die Musik nicht sofort, überhaupt die Geschäftsführung war offensichtlich für fast alles zuständig, keine professionelle Crew erledigte das Packen, Fahren, Auf- und Abbauen zu den Auftritten. Waren sie zunächst verunsichert, spürten sie doch schnell, dass sich bei Montelino alle verantwortlich fühlen und mit anpacken. Zunehmend spürten sie die Qualität in dieser Gemeinsamkeit und viele unterstützen nach ihren Kräften mit. Die vielen Möglichkeiten aufzutreten, der sich entwickelnde Kontakt zur Jugendgruppe des Circus und die zuverlässige Trainingsmöglichkeit vor Ort ließen die Kinder und Jugendlichen langsam aus ihrer Starre heraustreten. Sie lachten und alberten wieder, sie strahlten auf der Bühne und entwickelten gute Arbeitsbeziehungen zu ihren neuen Trainer*innen. Inzwischen wünschen sich die meisten hier bleiben zu können, ein Wunsch, dem aufgrund fehlenden Wohnraums in Potsdam, nur sehr schwer zu entsprechen ist.

Wer ist dabei?

 

  • Der Kinder- und Jugendcircus Montelino Potsdam organisiert das ganze Projekt mit der Unterstützung vieler ehrenamtlich Tätiger.

  • Am offenen Treff Zeltpunkt Montelino ist der Trainings- und Austauschort.

  • Ein Netzwerk aus Zirkussen in Berlin, Potsdam und Werder hat vor allem zu Beginn für die sinnvolle Verteilung der Gäste gesorgt, hat Spenden gesammelt, war und ist Austauschplattform für Fragen und organisiert Auftritte für die Gruppen.

  • Die Plattform helfende Häuser in Potsdam sorgt für Verpflegung, vermittelt Unterkünfte, hilft bei Fragen der Registrierung und Zuweisung.

  • Ehrenamtlich Tätige gaben Wohnraum, Unterstützung bei Behördengängen und übersetzen, spendeten Geld und Kleidung.

  • Die Aktion Mensch bewilligte schnell einen umfangreichen Förderantrag, der Training und Deutschkurse ermöglichte.

  • Die Berlin-Brandenburgische Auslandsgesellschaft (BBAG) e.V. stell Lehrpersonal für den Deutschkurs.

  • Über die Bündnisse für Bildung „Zirkus macht stark“ startete das Projekt „Begegnungen“ und die Vernetzung mit der Jugendgruppe des Circus.

  • Über eine Förderung der LH Potsdam im Rahmen des Kultursommers 2022 konnte das Stück “Begegnungen“ mit neuen Kostümen zur Aufführung gebracht werden.

  • Der Volkspark Potsdam stellte einen Ort für das neue Zelt kostenfrei zur Verfügung und lieh diverses Veranstaltungsmaterial aus.

  • Der Stadtteilladen Bornstedt übernahm über den Verein MitMachen e.V. Kosten für weitere Deutschkurse, Training und ein zunächst angemietetes Zelt.

  • Der Jugendmigrationsdienst Berlin Brandenburg des IB e.V. half mit Informationen zu ständig neuen Fragen.

Besonderheiten des Projekts

Das meiste, was uns das Projekt abgefordert, taten und tun wir zu allerersten Mal. Geboren aus der angstvollen Frage einer Siebenjährigen als die ersten Nachrichten vom Kriegsausbruch eintrafen: „Papa, was können wir da tun? Du machst doch was?“, stürzten wir uns ins Tun und konnten gar nicht anders als kreative Ansätze für die vielen, vielen Fragen zu haben, die sich plötzlich stellten.

Unser Projekt ist sichtbar. Die geflüchteten Kinder und Jugendliche sind mit ihren Familien am Platz. Wir haben Plakate aufgehangen und um Unterstützung für das Projekt gebeten. So kam eine große Zahl von Spenden zustande, sowohl in Form von Kleidung etc. als auch als Geldspenden. Nie zuvor haben wir erlebt, dass es eine so umfassende und anhaltende Unterstützung aus der Nachbarschaft und der Montelino verbundenen Menschen gab.

Wir konnten für die Gruppe mehrere Auftritte sowohl in Potsdam als auch in Berlin organisieren und damit Vernetzungen anschieben und dem Projekt Sichtbarkeit verschaffen. Neben dem ersten Auftritt zur Benefizveranstaltung des Volksparks, gestalteten sie eine weitere Präsentation in unserem Zelt und den Auftakt des Potsdamer Kultursommers 2022 mit einer Show auf dem Holzdeck im Volkspark. Bei Wind und Regenschauer traten sie im FEZ Berlin auf. Sie bereicherten ein Event der „Stadtspuren“ einem Kooperationsprojekt der Potsdamer Wohnungswirtschaft mit einer Darbietung in der fabrik Potsdam, fuhren zum Kleinkunstfest nach Götz und spielten im Zirkus Mond in Berlin. Derzeit treten einige Artist*innen im Rahmen der Produktion „Das Schiff, auf dem das Licht lebt“ auf dem Theaterschiff Potsdam auf.

Als eine große Besonderheit in diesem Projekt erleben wir die Freude, die wir den geflüchteten Menschen zurückgeben können, die positive Wirkung auf die Menschen um uns herum und dass wir Teil einer noch viel größeren Friedensinitiative sein können.